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Quelle:

Finanzgericht Hamburg
Art des Dokuments: Urteil
Datum: 12.10.2023
Aktenzeichen: 1 K 121/22

Schlagzeile:

Anforderungen an den Nachweis einer Behinderung

Schlagworte:

Amtsarzt, Arzt, Behinderung, Bescheinigung, DA-KG, Dienstanweisung, Erwerbsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeitsrente, Gutachten, Kindergeld, Nachweis, Schwerbehindertenausweis

Wichtig für:

Steuerberater

Kurzkommentar:

1. Das Finanzgericht hat im Rahmen einer Gesamtwürdigung etwa auf der Grundlage vorliegender ärztlicher Beurteilungen die Rechtsfrage zu entscheiden, ob eine Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG besteht. Dabei kommt es darauf an, ob eine Behinderung im Sinne der maßgeblichen Legaldefinition des § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX vorliegt.

2. Die Form des Nachweises der Behinderung ist nicht gesetzlich geregelt. Auch die in der Dienstanweisung des Bundeszentralamtes für Steuern zum Kindergeldrecht (DA-KG 2022 A 19.2) formulierten Möglichkeiten des Nachweises der Behinderung können nicht abschließend vorgeben, wie der Nachweis der Behinderung zu erbringen ist.

3. Auch ohne eine Verwendung des Begriffes Behinderung in einer ärztlichen Bescheinigung oder einem Gutachten ist gleichwohl zu prüfen, ob aufgrund der vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen bzw. Gutachten mit der für die gerichtliche Entscheidungsfindung erforderlichen Sicherheit auf eine Behinderung im Sinne der oben genannten Legaldefinition zu schließen ist.

4. Nur ein solches Verständnis der Anforderungen an den Nachweis einer Behinderung steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des BFH zur Abgrenzung zwischen der Berücksichtigung von Kindern bei krankheitsbedingter Hinderung an der Durchführung einer Ausbildung oder Suche nach einem Ausbildungsplatz einerseits und den Fällen behinderter Kinder andererseits, in denen der BFH eine Abgrenzung ausschließlich danach vornimmt, ob die gesundheitliche Beeinträchtigung regelmäßig mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostisch nicht länger als sechs Monate oder aber mehr als sechs Monate dauert (BFH-Urteile vom 31. August 2021, III R 41/19; vom 7. Oktober 2021, III R 48/19; vom 15. Dezember 2021, III R 43/20).

5. Im Streitfall führte die Auswertung von amtsärztlichen Gesundheitszeugnissen und Gutachten eines Sozialmedizinischen Dienstes auch ohne das Vorliegen von Bescheinigungen eines behandelnden Arztes und trotz erst spät im Verfahrensverlauf erfolgter Feststellung eines Grades der Behinderung zur Überzeugung des Senates vom Vorliegen einer Behinderung und deren Eintritt bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahres.

Hintergrund: Streitig war das Bestehen eines Kindergeldanspruchs der Klägerin für das Kind A bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.

Das Kind A leidet zumindest seit dem Jahr 2009 an seelischen Beeinträchtigungen, über die Gesundheitszeugnisse der beim Landkreis C tätigen Amtsärzte sowie eine sozialmedizinische Begutachtung des sozialmedizinischen Dienstes D vorliegen. Ärztliche Bescheinigungen eines behandelnden Arztes liegen nicht vor. Die Feststellung eines Grades der Behinderung hat das Kind A erst im Verlauf des Jahres 2023 während des gerichtlichen Verfahrens beantragt. Durch Feststellungsbescheid wurde entschieden, dass ab 10. Juni 2021 der Grad der Behinderung (GdB) 30 beträgt; die beantragte rückwirkende Feststellung wurde abgelehnt, da die Ausmaße erst seit dem 10. Juni 2021 nachgewiesen seien.

Die Familienkasse zahlte zunächst Kindergeld aufgrund einer Behinderung des Kindes A, forderte jedoch sodann einen amtlichen Nachweis der Behinderung (z.B. Vor- und Rückseite des Schwerbehindertenausweises) oder einen ärztlichen Nachweis der Behinderung auf dem mitübersandten Vordruck vom behandelnden Arzt an. Die Klägerin A verwies darauf, es sei kein Schwerbehindertenausweis vorhanden und auch einen ärztlichen Nachweis könne sie mangels vertrauensvoller Basis zur Hausärztin nicht vorlegen. Eine Begutachtung von Amts wegen sei zuletzt im Juni 2021 erfolgt, worauf die volle Erwerbsminderungsrente weiterhin bis März 2023 bewilligt worden sei.

Die Beklagte hob daraufhin die Kindergeldfestsetzung für das Kind A ab Januar 2022 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit der Begründung auf, dass der vorgelegte Nachweis nicht die erforderlichen Angaben zum Nachweis einer Behinderung enthalte und daher kein Nachweis der Behinderung im Sinne des EStG vorliege. Der gegen die Entscheidung eingelegte Einspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen, wobei die Aufhebung nunmehr auf § 70 Abs. 3 EStG gestützt wurde. Die bisher beigebrachten Unterlagen seien als Nachweise über das Vorliegen einer Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG nicht ausreichend.

Die Klägerin ist der Auffassung, sie habe einen Anspruch auf Kindergeld für das Kind A, weil das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Dies ergebe sich aus den vorliegenden Gesundheitszeugnissen und ärztlichen Gutachten ebenso wie der Umstand, dass diese Behinderung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sei.

Die Beklagte ist der Auffassung, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass die Voraussetzungen eines Kindergeldanspruches für das Kind A im Streitzeitraum vorgelegen hätten, da es an einem Nachweis der Behinderung gemäß A 19.2 der DA-KG 2022 fehle.

Das Gericht sah die Klage als begründet an.

Gemäß § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG (i.V.m. §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2 EStG) besteht ein Kindergeldanspruch, wenn ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.

Bei der Frage, ob eine Behinderung im Sinne dieser Vorschrift vorliegt, handele es sich um eine Rechtsfrage, über die das Finanzgericht im Rahmen einer Gesamtwürdigung etwa auf der Grundlage vorliegender ärztlicher Beurteilungen zu entscheiden habe. Dabei komme es darauf an, ob eine Behinderung im Sinne der maßgeblichen Legaldefinition des § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX vorliege. Die Form des Nachweises der Behinderung sei nicht gesetzlich geregelt. Ein Nachweis sei daher auch in anderer Form zulässig, als in der DA-KG 2022 in Abschnitt A 19.2 vorgegeben. Die in der DA-KG 2022 A 19.2 formulierten Möglichkeiten des Nachweises der Behinderung könnten daher lediglich einen ersten Anhalt geben, jedoch nicht abschließend vorgeben, wie der Nachweis der Behinderung zu erbringen sei. Die dort für ärztliche Bescheinigungen oder Gutachten angeführten erforderlichen Angaben insbesondere zum Vorliegen der Behinderung könnten nicht so verstanden werden, dass ausdrücklich in der ärztlichen Bescheinigung oder dem Gutachten das Wort "Behinderung" bejaht bzw. verwendet werden müsse. Denn diese Rechtsfrage könne nicht durch den behandelnden Arzt oder einen Gutachter abschließend beurteilt werden. So könne etwa auch trotz Verwendung des Wortes "Behinderung" durch einen Sachverständigen das Merkmal der Behinderung im Sinne der maßgeblichen Legaldefinition nicht erfüllt sein. Auch ohne eine Verwendung des Begriffes "Behinderung" in einer ärztlichen Bescheinigung oder einem Gutachten sei gleichwohl zu prüfen, ob aufgrund der vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen bzw. Gutachten mit der für die gerichtliche Entscheidungsfindung erforderlichen Sicherheit auf eine Behinderung im Sinne der oben genannten Legaldefinition zu schließen sei.

Bei Anwendung dieser Maßstäbe liege im Fall des Kindes A nach Überzeugung des Senats eine Behinderung im Sinne des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG zumindest seit 2009 vor, sodass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sei. Aus den vorliegenden zwischen 2009 und 2021 erstellten Gesundheitszeugnissen sei zu entnehmen, dass das Kind A mindestens seit dem Jahr 2009 und damit seit einem Zeitpunkt, zu dem es erst 21 Jahre alt gewesen sei, an einer Angsterkrankung und einer depressiven Grundstimmung leide. Dabei stimmten die ärztlichen/gutachterlichen Einschätzungen darin überein, dass eine eingeschränkte Erwerbsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes von unter 3 Stunden täglich zumindest für mehr als 6 Monate bestünde. Seit 2016 erhalte das Kind A eine Rente wegen voller Erwerbsunfähigkeit im Hinblick auf diese seelischen Erkrankungen. Die Voraussetzungen gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX seien danach erfüllt.

Das Urteil des Finanzgerichts ist rechtskräftig.

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